FALL

Eine Mutter sucht dich mit ihrem zehn Monate alten Sohn auf. Er hat ständig Hämatome und in der Kita wurde sie deswegen schon mehrfach der Kindesmisshandlung beschuldigt. Das Kind hat sich nun beim Laufen lernen verletzt. Am Knie kannst du ein großes Hämatom erkennen. Zudem fällt die Schonhaltung des Beines auf. Sie hat ihren Sohn adoptiert, daher ist die Familienanamnese nur sehr eingeschränkt möglich.

Krankheitsbild

  • Wie lautet deine Verdachtsdiagnose?

    Hämophilie

  • Kannst du die Pathogenese der Erkrankung kurz umreißen?

    Bei der Hämophilie A ist der Faktor VIII und bei der Hämophilie B der Faktor IX vermindert. Es handelt sich um eine Erbkrankheit, die x-chromosomal-rezessiv vererbt wird. Etwa 30 Prozent sind auf Spontanmutationen zurückzuführen.

  • Welche Rolle spielen Frauen bei der Vererbung? Kann es bei ihnen auch zu Blutungen kommen?

    • Frauen sind Konduktorinnen und vererben die Erkrankung mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent an ihre Söhne. 
    • Bei Frauen kann die Faktoraktivität auch reduziert sein. In Ausnahmesituationen kann es dann zu Komplikationen kommen. So können nach der Geburt Nachblutungen auftreten. Von schwerer Hämophilie spricht die Medizin erst, wenn die Restaktivität des Faktors < 1 Prozent beträgt. Bei Frauen ist die Restaktivität deutlich höher, daher ist bei ihnen mit lebensbedrohlichen Blutungen nicht zu rechnen.

Symptome

  • Kannst du erläutern, welche Blutungszeichen typisch für diese Erkrankung sind?

    • Beginn meist im ersten Lebensjahr, betroffen ist das männliche Geschlecht
    • großflächige Blutungen sowie Gelenk- und Muskelblutungen
    • Blutung beginnt nicht direkt nach der Verletzung
    • exzessive Blutungen aus leichten Schnitt- oder Schürfwünden sind untypisch
  • Wieso setzt die Blutung verzögert ein?

    Die primäre Hämostase (durch die Thrombozyten) ist intakt, dadurch wird die Blutung gestoppt. Da die sekundäre Hämostase nicht fehlerfrei abläuft, bildet sich kein fester Thrombus und die Blutung tritt verzögert ein.

  • Und wie sieht es mit Petechien aus. Sind diese auch typisch?

    Nein. Petechien sind ein Zeichen für eine Pathologie in der primären Hämostase. Bei der Hämophilie ist die sekundäre, also die plasmatische Gerinnung, gestört.

  • Ein Patient mit Hämophilie sucht eines Tages die Notaufnahme auf, weil er Schmerzen im rechten Unterbauch hat. An was solltest du neben einer Appendizitis noch denken?

    Pseudoappendizitis durch Einblutung in den Psoasmuskel

  • Wie kann eine Nierenkolik ausgelöst werden?

    Durch eine Nierenblutung kann sich ein Blutkoagel bilden, das im Harnsystem hängenbleibt. 

Diagnostik

  • Kannst du erklären, wie das typische Gerinnungslabor aussieht?

    • Thrombozyten → normal, da die primäre Hämostase keine Pathologie aufweist
    • Blutungszeit → normal, da die primäre Hämostase keine Pathologie aufweist
    • INR → normal, da die extrinsische Strecke nicht betroffen ist
    • aPTT → verlängert, da die intrinsische Strecke betroffen ist
  • Wie wird die Diagnose gestellt?

    Durch die quantitative Bestimmung der Gerinnungsfaktoren VIII und IX.

Therapie

  • Die Therapie gehört in die Hände eines Hämophilie-Zentrums. Kannst du grob die Akuttherapie erläutern?

    • symptomatische Therapie → Kühlung / Ruhigstellung / Schmerztherapie
    • Substitution von Gerinnungsfaktoren
  • Kennst du eine gefürchtete Komplikation, die im Rahmen der Behandlung auftreten kann?

    Hemmkörperhämophilie → der Körper bildet Antikörper gegen den substituierten Faktor und hemmt die Wirkung, lebensbedrohliche Blutungen können die Folge sein

  • Was kann dagegen getan werden?

    Immuntoleranztherapie → durch Hochdosis-Infusion wird versucht eine Immuntoleranz zu erzeugen

  • Gibt es bei der Hemmkörperhämophilie auch noch andere Therapieoptionen?

    • Bypass-Produkte → es wird versucht, die Blutgerinnung über den Faktor VIII zu umgehen und die Blutstillung über einen anderen Weg zu erreichen
    • Antikörper → übernimmt die Funktion des Faktor VIII, weist aber von der Struktur keine Ähnlichkeit mit dem Faktor auf und wird daher vom Immunsystem nicht erkannt
  • Bei leichter Hämophilie gibt es noch die Möglichkeit mit Desmopressin zu therapieren. Weißt du, wie die Wirkung zustande kommt?

    Desmopressin kann aus den Endothelzellen Faktor VIII freisetzen (Einsatz nur bei Hämophilie A möglich).

  • Bei schweren Verläufen wird eine prophylaktische Langzeittherapie angestrebt, die bereits in der Kindheit begonnen wird. Was soll dadurch erreicht werden?

    Wiederkehrende Blutungsereignisse können eminente Gelenk- und Muskelschäden herbeiführen und schwere Behinderungen nach sich ziehen. Gefürchtet ist die Arthropathie der großen Gelenke. Wachstumsstörungen müssen ebenfalls als Komplikation aufgeführt werden.

  • Kannst du erkären, wie die hämophile Arthropathie entsteht?

    Bei einer Gelenkblutung setzt die Synovia Enzyme frei, die das Blut wieder abbauen. Für die Enzymabgabe wird die Synovia kompensatorisch dicker und stärker durchblutet. Die Gefahr für eine erneute Gelenkeinblutung steigt. 

Patienten mit Hämophilie

  • Welche Punkte muss jeder, der Patienten mit Hämophilie betreut, berücksichtigen?

    • Thrombozytenaggregationshemmer und intramuskuläre Injektionen sind streng kontraindiziert
    • vor einer Operation immer Kontaktaufnahme mit einem Zentrum
    • Temperaturmessung möglichst nicht rektal (Verletzungsgefahr erhöht) 
  • Können die Patienten geimpft werden?

    Der Impfstoff wird aufgrund des höheren Blutungsrisikos möglichst nicht intramuskulär verabreicht, sondern subkutan. Fast alle gängigen Impfstoffe entfalten ihre Wirkung auch bei subkutaner Applikation. Die subkutane Gabe erfolgt meist in die Bauchdecke. Anschließend wird die Einstichstelle für einige Minuten komprimiert. Impfungen, die zwingend intramuskulär verabreicht werden müssen (z.B. gegen Tollwut), können durch vorherige Gabe von Gerinnungsfaktoren ermöglicht werden.

  • Die Mutter des Kindes möchte wissen, ob das Kind Sport machen darf?

    Sport kann sich positiv auf die Erkrankung auswirken:

    • Bewegung stärkt die Muskulatur und die Koordinationsfähigkeit → Verletzungsrisiko sinkt
    • Übergewicht, das die Gelenke belastet, wird verringert
    • soziale Integration in Gruppen und Vereinen soll nicht verhindert werden; das Kind soll trotz Krankheit möglichst unbelastet aufwachsen

    Empfehlungen

    • nicht alle Sportarten sind geeignet, am besten wird mit dem Kind gemeinsam eine Risikobewertung durchgeführt und Alternativen vorgeschlagen 
    • Sport (-unterricht) sollte möglichst an einem Substitutionstag erfolgen
    • das Kind muss gut geschult sein und wissen, wie es mit Blutungskomplikationen umgehen kann
    • Schule / Sportverein müssen über das Krankheitsbild informiert sein und das Kind muss Teile des Unterrichts ohne sich groß erklären zu müssen, ablehnen dürfen
    • Faktorpräparat muss in der Schule für Notfälle hinterlegt sein 

Differentialdiagnose

  • Was ist die wichtigste Differentialdiagnose?

    Von-Willebrand-Syndrom