Fall 6

FALL

Ein 12-Jähriger Junge hat sich einen fieberhaften Infekt eingefangen und wird von Kopf- und Gliederschmerzen geplagt. Die Oma hat ihrem Enkel daraufhin mehrfach eine Schmerztablette mit dem Wirkstoff ASS gegeben. Die Kopf- und Gliederschmerzen wurden dadurch positiv beeinflusst. Doch als der Junge wieder bei seiner Mutter ist, muss er stundenlang Erbrechen, wirkt apathisch und hat auch einen leichten Krampfanfall erlitten. Die Mutter alarmiert den Notarzt.

Krankheitsbild

  • Wie lautet deine Verdachtsdiagnose?

    Reye-Syndrom

  • Kannst du das Krankheitsbild und die Entstehung erläutern?

    Es handelt sich um ein intensivmedizinisches Krankheitsbild, das durch eine Enzephalopathie in Erscheinung tritt, die nicht entzündlich bedingt ist, sondern ihren Ausgang in der Leber nimmt (hepatische Enzephalopathie) und mit einer hohen Letalität einhergeht. Die Kinder leiden unter Erbrechen, werden zunehmend apathischer und zeigen weitere neurologische Symptome. Die Ursachen sind noch nicht abschließend geklärt, doch es wird ein Zusammenhang mit dem Vorhandensein eines viralen Infektes und der Einnahme von ASS angenommen. Daher sollten Kinder und Jugendliche kein ASS bei fieberhaften Infekten nehmen.

  • Welche Laborwerte würden deinen Verdacht untermauern?

    Labordiagnostisch kann die Leberschädigung durch erhöhte Transaminasen und erhöhte Ammoniakwerte auffallen. Die Leberschädigung kann ebenso zu Gerinnungsstörungen führen und eine Hypoglykämie auslösen, da die Leber nicht mehr in der Lage ist, Glykogen zu speichern und durch das Erbrechen die Hypoglykämie zusätzlich begünstigt wird.

ASS Therapie

  • Da ASS von vielen Patienten aus verschiedenen Fachrichtungen genommen wird, wollen wir noch etwas näher darauf eingehen. Kannst du die vier Wirkungen von ASS benennen?

    • analgetisch
    • antiphlogistisch
    • antipyretisch
    • hemmen die Thrombozytenaggregation
  • Wie hemmt ASS die Thrombozytenaggregation?

    ASS entfaltet seine Wirkung durch Hemmung der Cyclooxygenase COX-1 und COX-2:


    Wirkungsmechanismus

    • COX-1 → Thromboxan wird gehemmt (Thromboxan fördert normalerweise die Thrombozytenaggregation)
    • COX-2 → Prostazyklin wird gehemmt (Prostazyklin hemmt normalerweise die Thromboztenaggregation)

    Pharmakokinetik

    • trotz der gegensätzlichen Wirkung wirkt ASS hemmend auf die Thrombozytenaggregation, weil bei einer Low-dose-Therapie die COX-1 gehemmt wird, die COX-2 jedoch nicht
  • Kannst du erklären, warum bei einer Low-dose-Therapie die hemmende Funktion auf die Thrombozytenaggregation überwiegt?

    Bei einer Low-dose-Therapie erreicht ein ausreichender ASS-Spiegel den Wirkort für die COX-1 Hemmung, aber nicht den Wirkort für die COX-2 Hemmung:


    • im Pfortaderblut ist der ASS-Spiegel noch ausreichend hoch und die Thromboxan-Synthese in den Thrombozyten, die im Pfortaderblut reichleich vorhanden sind, kann durch die COX-1 gehemmt werden
    • die Hemmung der Prostazyklin-Synthese durch die COX-2 erfolgt nicht im Pfortaderblut, sondern in den Endothelzellen. ASS muss also erst in den Systemkreislauf gelangen und hat bis dahin keinen ausreichenden Wirkspiegel mehr. Bei höheren Dosen zum Beispiel im Rahmen einer Schmerztherapie ist der ASS-Spiegel im Systemkreislauf noch ausreichend hoch und die COX-2 kann gehemmt werden
  • Wie lange hält die Wirkung von ASS an?

    • thrombozytenaggregationshemmend → Thrombozyten sind nicht in der Lage COX erneut zu bilden, daher hält die Wirkung so lange an, wie die Thrombozyten im Blutkreislauf zirkulieren (etwa 7 Tage)
    • antiphlogistisch, antipyretisch und analgetisch → Endothelzellen können COX neu bilden und die Wirkung hält somit nur wenige Stunden an
  • Viele Patienten, die ASS Einnehmen, beklagen Magenbeschwerden. Wie entsteht diese Nebenwirkung?

    Normalerweise bildet die COX-1 im Magen Prostaglandine, die einen schützenden Effekt auf die Magenschleimhaut haben. Durch die Einnahme von ASS wird die COX-1 gehemmt und der Abfall von Prostaglandinen ist Ursache für die Beschwerden.

  • Wie nennt man die Unverträglichkeitsreaktion nach der Einnahme von ASS oder anderen NSAR?

    ASS-Intoleranz-Syndrom/Analgetika-Intoleranz-Syndrom oder auch Morbus Samter

  • Wie lautet die typische Symptomentrias dieses Beschwerdebildes?

    • Unverträglichkeit gegenüber ASS/NSAR
    • Asthma bronchiale
    • nasale Polypen
  • Wie lautet die einzige ursächliche Behandlungsmöglichkeit?

    Die Rede ist von der adaptiven Desaktivierung: Es wird durch wiederholte Anwendung von ASS in ansteigender Dosis versucht, eine Toleranz zu erzeugen. Diese Therapie ist speziellen Zentren vorbehalten. 

  • Stelle dir folgendes Szenario vor: Ein Patient nimmt regelmäßig 100 mg ASS ein, da er gefäßkrank ist. Nun kommen Rückenschmerzen hinzu und der Patient nimmt Ibuprofen. Welche Interaktion könnte mitunter einen tödlichen Ausgang nehmen?

    Bei gleichzeitiger oder zeitnaher Einnahme der Wirkstoffe ASS und Ibuprofen kann die gefäßprotektive Wirkung von ASS ausfallen. ASS hemmt die COX in den Thrombozysten irreversibel und entfaltet so ihre gefäßprotektive Wirkung. Wenn beide Wirkstoffe parallel eingenommen werden, hat Ibuprofen eine höherer Bindungsaffinität an den Rezeptor als ASS und hemmt die COX nur irreversibel. Nach ein paar Stunden können die Thrombozyten dann wieder Thromboxan für die Thrombozytenaggregation bilden. ASS ist bis dann abgebaut und kann seine Wirkung nicht entfalten.

  • Welchen Rat bezüglich der Einnahme hast du für deinen Patienten?

    entweder der Patient nimmt ASS mindestens eine Stunde vor Ibuprofen

    • die Cyclooxygenase kann durch ASS in den Thrombozyten irreversibel gehemmt werden und kann durch Ibuprofen nicht mehr verdrängt werden (die analgetische Wirkung durch Hemmung der COX-2 wird dadurch nicht beeinflusst)

    oder der Patient nimmt ASS mindestens acht Stunden nach Ibuprofen

    • dann ist die Bindungsstelle an der Cyclooxygenase nicht mehr von Ibuprofen besetzt, da es nur reversibel bindet, und kann anschließend irreversibel durch ASS gehemmt werden
  • Wäre die gemeinsame Einnahme über ein oder zwei Tage auch schon als problematisch zu bewerten?

    Da ASS die COX-1 irreversibel hemmt, hat ASS eine lange Wirkdauer, somit sind Komplikationen nach einer kurzen Einnahme ohne Abstand nicht zu befürchten. Grundsätzlich sollte der zeitliche Einnahmeabstand dem Patienten ans Herz gelegt werden.

  • Wie kannst du therapeutisch bei schweren Blutungskomplikationen unter ASS-Therapie tätig werden?

    Ein spezifisches Antidot existiert nicht. Die Wirkung kann nur über die Gabe von Thrombozytenkonzentraten aufgehoben werden.

  • Du verschreibst einer Patientin für ihre Thrombose Heparin. Sie fragt dich, ob sie nicht auch ASS nehmen könnte, weil dadurch das Blut doch auch flüssiger werden würde und sie dieses Medikament gut vetragen würde?

    Nein, die Behandlung und Prophylaxe einer Thrombose erfordert eine klare Unterscheidung der Ursprungsquelle.


    arterieller Schenkel → der arterielle Thrombus entsteht aus einer Thrombozytenaggregation, der dann an einer defekten Gefäßwand andockt und sich vergrößert (KHK, pAVK)

    • Behandlung → Thrombozytenaggregationshemmer (ASS)

    venöser Schenkel → ein venöser Thrombus entsteht meist durch Strömungsverlangsamung aus Erythrozyten und Fibrin und nicht aus Thrombozyten, daher kann ASS an dieser Stelle nicht wirken

    •  Behandlung → Antikoagulanzien
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