FALL
Ein 18-Jähriger sucht die Notaufnahme auf, da er Schmerzen im Brustkorb hat. Seine Eltern kommen gebürtig aus der Türkei und er war vor dem Schmerzereignis im kalten Wasser schwimmen. Im Blutbild fällt sofort der Hb von 8 g/dl auf.
Krankheitsbild
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Wie lautet deine Verdachtsdiagnose?
Sichelzellkrankheit mit einer Schmerzkrise
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Kennst du die Pathogenese dieser Erkrankung?
HbS (Sichelzellhämoglobin) enthält 2 β-Globinketten, bei denen auf Chromosom 11 an Position 6 Glutaminsäure durch Valin ersetzt ist. Wenn dieses Sichelzellhämoglobin nicht mit Sauerstoff beladen ist, nimmt es eine Form an, die an Sicheln erinnert. Das hat für den Patienten zwei Folgen:
- Sichelzellhämoglobin wird vorzeitig abgebaut (Anämie)
- Sichelzellen sind schlechter verformbar als gesunde Erythrozyten. Dadurch erhöht sich die Blutviskosität und die Beförderung der Sichelzellen durch die Kapillaren wird erschwert. Folge sind Thromboembolien und Gefäßverschlüsse
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Sind nur homozygote Merkmalsträger betroffen oder auch heterozygote Merkmalsträger?
Bei den heterozygoten Merkmalsträgern ist nur eines der beiden Hämoglobin-Gene verändert. Bei Sauerstoffmangel bildet sich dann keine Sichelform. Schwere Verlaufsformen sind daher bei Heterozygoten nur in Einzelfällen zu erwarten.
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Stelle dir folgende Konstellation vor: Ein Patient mit Sichelzellkrankheit lässt sich genetisch beraten, da Kinderwunsch besteht. Die Partnerin hat nachweislich keine Sichelzellkrankheit und ist für diese Erkrankung auch nicht Konduktorin. Kann das Kind trotzdem eine Sichelzellkrankheit haben?
Wenn das Kind von einem Elternteil das Sichelzell-Gen erbt und von dem anderen Elternteil, das keine Sichelzellkrankheit hat, ein verändertes Hämoglobin-Gen (zum Beispiel das Thalassämie-Gen) kann sich die Sichelzellkrankheit trotzdem entwickeln. Dieser Sachverhalt ist wichtig für die genetische Beratung und für die Anamnese.
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Welche Patienten sind besonders betroffen?
Besonders betroffen sind Personen, die aus dem östlichen Mittelmeerraum, Afrika und dem mittleren Osten stammen.
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Wann tritt bei Kindern erstmals die Sichelzellkrankheit in Erscheinung?
In den ersten Lebensmonaten enthält das kindliche Blut noch fetales Hämoglobin, daher treten Probleme erst ab dem sechsten Lebensmonat auf, wenn das fetale Hämoglobin durch das adulte Hämoglobin ersetzt wird.
Diagnose
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Wie sieht die Diagnostik der Erkrankung aus?
- Anamnese → Herkunft, Familienanamnese, Symptome
- Blutbild → hämolytische Anämie
- Sichelzelltest → Blut, das 24 Stunden unter Sauerstoffabschluss aufbewahrt wurde, wird mikroskopiert (Sichelform ggf. erkennbar)
- Elektrophorese → Bestimmung des Genotyps
- molekulargenetische Untersuchung → Punktmutation kann nachgewiesen werden
Therapie
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Wie heißt die einzige kausale Therapie der Erkrankung?
Nur durch eine allogene Stammzelltransplantation ist eine Heilung möglich. Allerdings birgt eine solche Therapie Risiken und ist nicht immer die erste Wahl.
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Welcher Wirkstoff wird in der Regel zur Therapie eingesetzt?
Hydroxycarbamid
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Was bewirkt diese Medikation?
Durch die Einnahme wird das fetale Hämoglobin (HbF) erhöht. Erythrozyten mit hohem Anteil von HbF, gehen nicht in die Sichelform über. Gefäßverschlüsse, Organschäden, Schmerzkrisen und Hämolysen treten seltener auf; auch eine Lebensverlängerung konnte nachgewiesen werden. Zudem steigt durch die höhere Hämoglobinkonzentration auch das subjektive Wohlbefinden.
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Wie behandelst du die Schmerzkrise deines Patienten?
Hydrierung
- leichte Schmerzen / Darmgeräusche vorhanden → orale Gabe
- starke Schmerzen / Darmgeräusche fehlen → intravenöse Gabe
Analgesie
- da die meisten Patienten zuhause schon Schmerzmittel genommen haben, ist fast immer ein Opiat erforderlich
- bei Patienten mit einem Hb > 9 g/dl → Aderlass (senkt die Blutviskosität)
Behandlung des Auslösers
- Infektionsgeschehen sollte aufgespürt und behandelt werden
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Wie äußert sich eine Schmerzkrise bei einem Kleinkind? Wie sieht die Therapie aus?
Als erste Manifestation der Sichelzellkrankheit tritt häufig das Hand-Fuß-Syndrom in Erscheinung. Ursache sind Infarkte an den Mittelhandknochen und Mittelfußknochen. Die Hände und Füße schwellen an und schmerzen. Die Kinder verweigern häufig das Laufen oder Greifen. Nach dem dritten Lebensjahr kommt dieses Schmerzsyndrom nicht mehr vor, da die Hämatopoese dann nicht mehr in den Hand- und Fußknochen stattfindet. Zur Analgesie reicht häufig eine Behandlung mit Paracetamol.
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In außergewöhnlichen Situationen (z.B. Multiorganversagen, ZNS-Ereignis) gibt es noch eine Behandlungsmethode, um kurzfristig den Hämoglobinspiegel zu erhöhen und den HbS Anteil zu senken. Weisst du, um welches Therapieverfahren es sich dreht?
Austauschtransfusion
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Welche prophylaktischen Maßnahmen sind bei der Erkrankung erforderlich?
- regelmäßige Ultraschalluntersuchungen der Blutgefäße des Gehirns → erhöhtes Schlaganfallrisiko
- Impfungen besonders gegen Pneumokokken, Meningokokken, Haemophilus, Grippe- und Hepatitisviren → Patienten mit Sichelzellerkrankung sind besonders anfällig für Infektionen mit diesen Erregern
- Prophylaxe mit Penicillin (mindestens bis zum 5. Lebensjahr) → Prävention vor schweren bakteriellen Infektionen
- Patientenschulung → Vermeidung einer Schmerzkrise, Verhalten bei Infektionen, Erkennen von Komplikationen (Sepsis, aplastische Krise, Milzsequestration)
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Monate später steht bei deinem Patienten eine Operation an. Was ist hierbei zu beachten?
- Narkose kann Auslöser einer Sichelzellkrise sein → stationäre Aufnahme auch bei den üblichen ambulanten Eingriffen
- Hydrierung vor der Operation
- Oxygenierung
- Unterkühlung vermeiden
- Atemgymnastik postoperativ
Komplikationen
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Was ist eine Sichelzellkrise?
Eine solche Krise äußert sich durch starke, akute Schmerzen und Durchblutungsstörungen. Mögliche Auslöser können Fieber, Infektionen, Schwangerschaft, Operationen, Dehydration, Kälte, körperliche Betätigung und Aufenthalt in der Höhe sein.
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Welche Organe können betroffen sein?
- Knochenschmerzen → aseptische Knochennekrose
- akutes Thoraxsyndrom → Mikroinfarkte
- akutes Abdomen → paralytischer Ileus durch Infarkte der Mesenterialgefäße (Girdle-Syndrom)
- weitere Organschädigungen → ZNS, Nieren, Milz
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Warum verschlimmert die Hämolyse die Gefäßverschlüsse?
Durch die Hämolyse entsteht freies Hämoglobin, das Stickstoffmonoxid bindet. Normalerweise wirkt Stickstoffmonoxid vasodilatatorisch, da es aber durch die Bindung an freies Hämoglobin verbraucht wird, verengen sich durch die Hämolyse die Gefäße.
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Welches Problem tritt besonders in den ersten Lebensjahren auf?
Die geschädigte Milz birgt ein hohes Risiko für lebensbedrohliche Infektionen (funktionelle Asplenie).
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Als Komplikation ist auch die Milzsequestration zu nennen. Was ist darunter zu verstehen?
Ein akutes Versacken der Erythrozyten in der Milz. Durch den rapiden Hb-Abfall kann ein hypoxischer oder hypovolämischer Schock drohen.
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Über welche Komplikation sollten männliche Patienten unbedingt aufgeklärt werden?
Priapismus ist eine Komplikation der Sichelzellkrankheit (etwa 90 % haben mindestens eine Episode gehabt)
- Impotenz kann bei fehlender Behandlung drohen
- Maßnahmen, die der Patient ergreifen kann → Analgetika, Miktion, warmes Bad